Der Anlass
MARE NOSTRUM hieß das Mittelmeer zu Zeiten des Römischen Reiches. MARE NOSTRUM nannte die italienische Regierung die humanitäre Mission zur Seenotrettung von Migranten. Drückte die antike lateinische Bezeichnung des Mittelmeeres eher imperiale Besitzansprüche aus, war sie für die Rettungsaktion, die im Oktober 2013 anlief, Ausdruck der fürsorglich solidarischen Verantwortung einer modernen demokratischen Gesellschaft für „unser Meer“.
Bis Oktober 2014 rettete MARE NOSTRUM etwa 130.000 Menschen aus Seenot. Dann wurde MARE NOSTRUM eingestellt. Die europäischen Regierungen haben sich für Abschottung, Grenzsicherung und Zurückweisung entschieden.
An den Grenzen der „Festung Europa“ sterben Menschen, die wir retten könnten. Mehr als 35.000 tote Kinder, Frauen und Männer dokumentiert die Liste der UNITED*, die Dunkelziffer wird um vieles höher geschätzt. Das massenhafte Sterben zuzulassen, obwohl wir es verhindern könnten, heißt zugleich, dass wir das Wertefundament Europas, die Men-schenrechte, selbst zerstören. Wo Menschen, die vor Verfolgung, Gewalt, Krieg und Hunger flüchten, zur bedrohlichen „Flüchtlingsflut“ entmenschlicht, ausgegrenzt und dem Tod überlassen werden, wo im öffentlichen Diskurs Unworte wie „Überfremdung“, „Umvolkung“ kursieren und von einer Verschwörung zur „Islamisierung des Abendlandes“ geraunt wird, wo Hass auf Fremde in den Straßen demonstriert, wo Menschen in Not kriminalisiert werden und deren Unterkünfte brennen, drängt sich Auschwitz als Menetekel auf. „Nie wieder!“ war das Vermächtnis.
MARE NOSTRUM ist der Titel der Installation, die sich künstlerisch diesem Vermächtnis an die Gegenwart stellt.
Seit seiner Vertreibung aus dem Paradies wandert der Mensch auf der Erde, zieht umher auf der Suche nach Lebensbedingungen, die seine Existenz sichern. Migration ist Menschsein – kein Verbrechen.
Der Vorgang
entwickelt sich aus den Gegebenheiten. Er ist nicht planbar, hat aber als Ausgangspunkt die UNITED-Liste der Toten, die 2018 unter dem Titel „Todesursache: Flucht“ ** herausgegeben wurde. Sie versammelt die in Europa, Afrika und der Levante dokumentierten Todesfälle von Menschen auf der Flucht. Über 35 000 Menschen listet sie auf zusammen mit dem meist Wenigen, was über sie bekannt ist. Die meisten sind namenlos, nur eine Zahl. Jedem Einzelnen dieser Menschen widmet MARE NOSTRUM einen Kieselstein, graviert mit dem Namen oder einem NN (No Name, oder lateinisch: Nomen Nominandum, der Name, der noch zu finden ist). Die langwierige Arbeit des Gravierens findet im öffentlichen Raum der Städte und Gemeinden entlang der Isar statt; aus den gravierten Steinen entstehen temporäre Installationen, die sich dann wieder auflösen, wenn die gravierten Steine entlang der Wanderwege an der Isar von der Quelle bis zur Mündung eine Linie markieren, eine Art Traumpfad. Der Strecke von etwa 300 Kilometern entspricht alle acht Meter ein Stein. In großen Abständen werden dazu einzelne Skulpturen aus gefundenen Materialien entstehen, die fremd in einer idyllisch romantischen Landschaft stehen und doch Teil von ihr sind, nur ein wenig ver-rückt und verfremdet, eröffnen sie mögliche neue Sichtweisen. Auf manchen mögen sie wie dämonische Chiffren wirken, zum Spiegel verborgener Ängste vor der Begegnung mit dem unerwartet Fremden werden.
Zu mir
Aufgewachsen nach dem Krieg, hineingewachsen in das Bewusstsein der Katastrophe des Dritten Reiches und in das Wissen um die Schicksale der Verfolgten, aufgewachsen in der Nachbarschaft mit Vertriebenen aus dem Osten und Gastarbeitern aus dem Süden, die das Land bereichert haben, beschämt mich eine Politik in diesem Land, die ihre geschichtliche Verantwortung an den Ursachen für die Flucht von Menschen in anderen Teilen der Erde leugnet.
Zu Christine Landinger
Wir sind seit vielen Jahren Lebens- und Kunstgefährten, entwickeln die Projekte inhaltlich und ästhetisch gemeinsam, die sie fotografisch und mit eigenen künstlerischen Interventionen begleitet. Sie wuchs in der Nähe von Landshut auf, mütterlicherseits vom Schicksal der Vertreibung beeinflusst. Nach vielen Jahren als Tänzerin und Schauspielerin im Theater begleitet sie heute beruflich Jugendliche aus migrantischen Familien beim Übergang von der Schule ins Arbeitsleben.
Zum Ort
MARE NOSTRUM entsteht entlang der Isar von der Quelle im Karwendelgebirge bis zur Mündung in die Donau. Der Fluss als Beispiel einer der ältesten Migrationsrouten in der Menschheitsgeschichte, als Lebensader, als eine Metapher für Verbindung und Ver-bundensein, für das Unaufhaltsame und nicht Kontrollierbare, für unablässige Bewegung und stete Veränderung ist für sich schon Teil und Bühne von MARE NOSTRUM. Weite Bereiche der Isar und ihrer Flussauen sind Landschaftsschutzgebiete, die von Wanderwegen durchzogen sind. Auf Schutz und Wandern bezieht sich im übertragenen Sinn MARE NOSTRUM und zieht seine Spur entlang dieser Wege.
Zum Material
Die Installation entsteht aus Kieselsteinen, Schwemm- und Bruchholz, Lehm und anderen vor Ort gefundenen Materialien. Ihre Form hängt vom Zu-fall ab und dem, was der Ort hergibt. Nur die weiße Farbe, die die Spur aus Skulpturen und Zeichen scheinbar fremd und dadurch sichtbar macht, ist ortsfremd.
Zur Vorgehensweise
Dem Wilden und den „Wilden“ wurden und werden bis heute oft Reservate zugewiesen. Die Isar in ihrem Oberlauf ist einer der letzten Wildflüsse in Europa; ihr Reservat ist von Grenzen geschützt, hinter denen der normale ökologische Wahnsinn weiter wuchert. Zu Fuß oder mit dem Fahrrad dürfen die Wanderwege des Schutzgebietes genutzt werden.
In Erwägung, dass ich mit dem vor Ort gefundenen Material arbeite und nicht substanziell in die Landschaft eingreife, sondern sie achtend lediglich punktuell verfremde, werde ich mich nicht bei den örtlichen Behörden um eine Genehmigung bewerben, sondern mich auf dem schmalen Pfad zwischen legal und illegal bewegen und auf Dialog setzen. Es geht um Grenzüberschreitungen, die dem Thema ebenso entsprechen, wie der Vorgang, dass Wind, Wetter und andere Einflüsse die Installationen mit der Zeit transformieren und wieder in ihre Umgebung integrieren, als wäre nichts gewesen.
MARE NOSTRUM ist auf allen Ebenen als Dialog angelegt und lädt jeden ein, sich an dem Prozess seiner Entstehung zu beteiligen.
peter weismann.
* UNITED for Intercultural Action, Amsterdam. www.UnitedAgainstRefugeeDeaths.eu
** Todesursache: Flucht. Eine unvollständige Liste, herausgegeben von Kristina Milz und Anja Tuckermann. Hirnkost Verlag, Berlin, 2018
Das Projekt MARE NOSTRUM längs der Isar wird ideell unterstützt von:
- Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm
- Erzpriester Apostolos Malamoussis
- Kardinal Reinhard Marx
- Altstadtförderer e.V., Moosburg
- Bayerischer Flüchtlingsrat
- Bellevue di Monaco, München
- Erzdiözese München und Freising
- Haus International, Landshut
- Lichterkette e.V.
- Rosa Luxemburg Stiftung
- Seebrücke München